Erster Schultag – nur leider nicht für alle!
Sehr geehrte Senatorin Scheeres,
Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung. So steht es in Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention. Auch § 2 des Berliner Schulgesetzes verspricht allen Kindern das Recht auf schulische Bildung. Trotzdem wird Kindern, die über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen, dieses Recht in der Praxis häufig nicht gewährt: Zahlreiche formale und praktische Hürden verhindern den Schulbesuch gänzlich oder sorgen dafür, dass dieser mit großen Ängsten verbunden ist.
Daher fordern wir als Bündnis Solidarity City Berlin: Anstatt sich auf das formale Schulzugangsrecht zurückzuziehen, sollten in Berlin praktische Hürden identifiziert und abgebaut werden, die dem Schulbesuch im Wege stehen. Die Maxime muss lauten: Im Zweifel hat immer das Recht auf Bildung Vorrang – der Schulbesuch darf nicht an Papieren scheitern!
Durch verschiedene Studien und eigene Recherchen – vor allem Interviews mit betroffenen Eltern und einer Telefonumfrage bei den Schulämtern in allen Berliner Bezirken – haben wir vor allem drei entscheidende Bereiche identifiziert, in denen Hindernisse dringend abgebaut werden müssen.
1) Übermittlungsverbot: Schulen dürfen keine Daten zum Aufenthaltsstatus an die Ausländerbehörde übermitteln!
Obwohl Schulen seit 2011 nicht mehr der Übermittlungspflicht nach § 87 AufenthG unterliegen, ist die Angst vor Weitergabe von personenbezogenen Daten an die Ausländerbehörde in der Praxis weiterhin ein zentrales Hindernis auf dem Weg zu schulischer Bildung. So zeigt die auf zahlreichen Telefoninterviews mit Schulen beruhende Studie Illegal und unsichtbar? von Holger Wilcke (Transcript 2018), dass diese Angst nicht unbegründet ist. Ein Teil der befragten Schulmitarbeiter*innen ist weiterhin der Überzeugung, die Meldebehörde oder die Polizei über den unerlaubten Aufenthalt eines Kindes informieren zu müssen. Wir haben kürzlich bei telefonischen Umfragen der Berliner Schulämter festgestellt, dass diese Meinung teilweise auch dort vertreten wird.
Am 12. Oktober 2018 hat der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte Deutschland empfohlen, eine klare Trennung („firewall“) zwischen öffentlichen Dienstleistern und Ausländerbehörden zu schaffen und die Übermittlungspflicht in § 87 Abs. 2 AufenthG gänzlich abzuschaffen. Daher fordern wir die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie auf, die Schulbehörden und Schulen explizit darauf hinzuweisen, dass sie zur Übermittlung von personenbezogenen Daten an die Ausländerbehörde nicht berechtigt sind, da eine Rechtsgrundlage für eine Übermittlung fehlt und eine solche Übermittlung die Erfüllung ihres Bildungsauftrages für alle Kinder in Berlin verhindern würde.
2) Schulanmeldung: Es darf nicht an Papieren scheitern!
Eine weitere Hürde zur Beschulung von Kindern ohne legalen Aufenthaltsstatus entsteht bei der Schulanmeldung. Während drei der von uns befragten Schulämter immerhin ihre Sprechstunden anboten, um sich den Fall dort genauer anzusehen, bestanden zwei andere Schulämter darauf, dass ohne Pass und Meldebescheinigung, in einem Fall sogar ohne abgeschlossenes Asylverfahren, keine Anmeldung an einer Schule möglich sei. Diese Einstellung verhindert, dass betroffene Kinder von ihrem Recht auf Bildung Gebrauch machen können. Menschen ohne Papiere ist es auf Grund ihrer legalen Situation grundsätzlich nicht möglich, sich anzumelden, da die Meldebehörde den Aufenthaltstitel sehen möchte. Doch die Tatsache, dass die Kinder nicht angemeldet sind, heißt noch lange nicht, dass sie nicht permanent hier leben. Damit haben sie nach §2 auch das Recht, die Schule zu besuchen.
Viele Betroffene scheitern also an den praktischen Hürden, ihr Kind in der Schule anzumelden, andere wagen einen solchen Versuch gar nicht erst. Viele von ihnen haben Sprachschwierigkeiten, sind ortsunkundig, trauen sich nicht, ihre Probleme einer offiziellen Person wie etwa einem Schulleiter mitzuteilen, haben Informationsdefizite bezüglich ihrer Rechte oder wissen schlichtweg nicht, wo sie sich informieren oder Hilfe bekommen können. Nur wer Glück hat, so wie im Fall eines unserer interviewten Elternteile, findet Ehrenamtliche, die den Gang zum Sekretariat begleiten und den Zugang zur Schule ermöglichen. Da dies kein zuverlässiges System ist, fordern wir eine zentrale Anlaufstelle, in der sich Menschen informieren können, ohne dass sie Pass oder Aufenthaltstitel zeigen müssen. Diese Stelle muss bis zur erfolgreichen Anmeldung an einer Berliner Schule praktische Hilfestellung leisten.
Ein weiteres Problem stellt die fehlende Krankenversicherung dar. Ohne Krankenversicherung haben Schulen und andere Institutionen Befürchtungen, Kinder aufzunehmen, da nicht klar ist, wer im Falle eines Unfalls haftet. Eines der Schulämter drohte laut den uns vorliegenden Betroffenenberichten sogar mit einer Meldung an die Ausländerbehörde, sollte sich das Kind verletzen. In einem weiteren Fall erklärte eine Lehrerin, ein Kind könne ohne Krankenkassenkarte nicht auf Klassenfahrt mitkommen.
3) Sensibilisierung: Bildungsverwaltung, Schulämter und Schulpersonal müssen die Situation von Kindern ohne Aufenthaltsstatus besser verstehen!
Auch im Falle einer gelungenen Schulanmeldung lassen die Probleme für undokumentierte Kinder nicht nach. Neben einem angstfreien Zugang appellieren wir an die Senatsverwaltung, sich auch für einen reibungslosen Schulalltag einzusetzen. In den Interviews mit betroffenen Eltern wurde deutlich, dass die Beschulung ihrer Kinder einer ständigen Angst vor Aufdeckung und Abschiebung gleichkommt. Neben Schulämtern muss auch dem Schulpersonal kommuniziert werden, dass eine Weitergabe aufenthaltsbezogener Daten weder rechtlich notwendig noch von Seiten der Senatsverwaltung gewünscht ist. Das gilt auch für den Kontakt mit dem Jugendamt, da in diesen Fällen die Angst vor der Weitergabe von Daten besonders hoch ist. Das gilt auch für einen Fall, in dem etwa ein Lehrer – mit guten Absichten ohne um die besondere Schutzbedürftigkeit des Kindes zu wissen – eine Erziehungsberatung beim Jugendamt in Anspruch nimmt.
Damit das Recht auf Schule Realität wird, sind auch die Aufklärung und Sensibilisierung der Verwaltungsmitarbeitenden sowie des Schulpersonals von zentraler Bedeutung. Bei unserer Telefonumfrage ging es nicht darum, einzelne Mitarbeitende aufgrund einer spontanen Reaktion am Telefon an den Pranger zu stellen. Wir deuten die große Bandbreite an unterschiedlichen Antworten aber sehr wohl als ein Indiz für ein strukturelles Wissensdefizit zuständiger Behörden und damit als Barriere für die erfolgreiche Beschulung von Kindern ohne Papieren. Wir fordern die Senatsverwaltung auf, diese Informationslücke zu schließen, indem Mitarbeitende über die besondere Schutzbedürftigkeit und das Recht auf Schule von undokumentierten Kindern aufgeklärt werden. Dazu soll eine konkrete Ansprechperson für Verwaltungsmitarbeitende und Schulpersonal ernannt werden, die für alltagspraktische und rechtliche Fragen zur Verfügung steht.
Um alltagspraktischen Problemen wie diesem vorzubeugen und einer in Unsicherheit oder Unwissenheit begründeten Ablehnung der Schulleitungen oder des Lehrpersonal vorzubeugen, haben wir das beiliegende Factsheet erarbeitet. Dieses wurde in Kooperation mit der GEW entwickelt und soll dem Schulpersonal als Hilfestellung für diese Zielgruppe dienen, indem Sorgen mit konkreten Lösungsstrategien begegnet wird. Wir fordern die Senatsverwaltung auf, dieses Factsheet an Schulleitungen weiterzuleiten und in Einzelfragen auf die oben benannte Ansprechperson zu verweisen.
Das Recht auf Bildung muss praktisch werden! Um diese massiven strukturellen Hindernisse beim Schulzugang von Kindern ohne Papiere politisch anzugehen, fordern wir, dass in §2 Schulgesetz explizit ergänzt wird, dass alle Kinder unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein Recht auf schulische Bildung haben und dieses in Berlin mit Hilfe von Senats- und Bezirksverwaltung umgesetzt wird.