Ein­fach nicht nach Papie­ren fra­gen

taz vom 16.08.2018

Ber­lin will im euro­päi­schen Netz­werk Soli­da­ri­sche Städ­te mit­wir­ken. Die Ankün­di­gung reicht nicht, sagt Ant­je Die­te­rich vom Netz­werk Soli­da­ri­ty City Ber­lin.

taz: Frau Die­te­rich, der Senat hat ange­kün­digt, im euro­päi­schen Netz­werk „Soli­da­ri­sche Städ­te“ mit­zu­wir­ken. Wird Ihre Initia­ti­ve damit über­flüs­sig?

Ant­je Die­te­rich: Wenn unter Soli­da­ri­tät ver­stan­den wird, allen Ber­li­nern die vol­le Par­ti­zi­pa­ti­on zu ermög­li­chen, hät­ten wir tat­säch­lich alles erreicht. Aber so weit sind wir noch lan­ge nicht. In Zei­ten von See­ho­fer und Post-Pegi­da-Ras­sis­mus ist so eine Initia­ti­ve ein gutes Zei­chen, aber die Fra­ge ist: Was folgt aus die­ser Ankün­di­gung? Nur zu sagen, Ber­lin ist eine soli­da­ri­sche Stadt, macht Ber­lin noch nicht zu einer.

Was ist eine soli­da­ri­sche Stadt?

Eine Stadt, in der die Tren­nung von Men­schen in Deut­sche und Migran­ten oder Lega­le und Papier­lo­se auf­ge­ho­ben ist; in der es heißt: Wer in Ber­lin lebt, kann zur Schu­le gehen und zum Arzt, kann sich einen Job suchen und eine Woh­nung. Ein ent­schei­den­der Schritt ist es, Men­schen vor Abschie­bung zu schüt­zen.

Wel­che Bedeu­tung hat es, wenn Men­schen sich nicht mehr vor Abschie­bun­gen fürch­ten müs­sen?

Mit die­ser Sicher­heit las­sen sich die meis­ten ande­ren Pro­ble­me lösen. Dann kön­nen die Men­schen auch wie­der für sich selbst auf­ste­hen. Sie kön­nen sich gegen Aus­beu­tung weh­ren. Dage­gen, dass sie auf­grund von Dis­kri­mi­nie­rung kei­ne Woh­nung krie­gen, dass sich bei einem Arbeits­un­fall kei­ner für sie inter­es­siert oder dass der Arbeit­ge­ber auf ein­mal den Lohn nicht mehr oder von vorn­her­ein zu wenig bezahlt.

Was kann Ber­lin kon­kret tun, um den Betrof­fe­nen das Blei­ben zu ermög­li­chen?

Man könn­te Men­schen ein­fach nicht mehr nach ihren Papie­ren fra­gen. In Schu­len ist es bereits so, dass nicht mehr gefragt wer­den darf. Wenn das durch ent­spre­chen­de Dienst­vor­ga­ben auch für Behör­den oder die Poli­zei gel­ten wür­de, wäre das ein star­kes lebens­prak­ti­sche Bei­spiel dafür, wie man Sachen anders machen kann. Die Leu­te wür­den mer­ken, dass die Welt nicht auf­hört, sich zu dre­hen, wenn man nicht mehr nach dem Auf­ent­halts­sta­tus fragt.

Aber es bleibt ein Rest­ri­si­ko, doch auf­zu­flie­gen und dann abge­scho­ben zu wer­den.

Es gibt auch das Recht für eine Stadt oder ein Land, Per­so­nen­grup­pen zu defi­nie­ren, die beson­ders schutz­be­dürf­tig sind, und die­sen ein Blei­be­recht zu geben. Das könn­ten Men­schen aus Afgha­ni­stan sein, Men­schen aus Kame­run oder Men­schen, denen eine Abschie­bung nach Grie­chen­land droht. Das ist recht­lich nicht ganz ein­fach, auch weil es dafür kaum Bei­spie­le gibt. Aber es geht, Para­graf 23 des Auf­ent­halts­ge­set­zes defi­niert eine sol­che Mög­lich­keit. Und ich wage, zu bezwei­feln, dass Ber­lin Men­schen ein Blei­be­recht gibt und dann See­ho­fer oder eine Bun­des­po­li­zei kommt, um die­se doch abzu­schie­ben.

Das ist schon ein Moment des zivi­len Unge­hor­sams gegen­über der Zen­tral­re­gie­rung?

Abso­lut, und das ist auch not­wen­dig. Es wird behaup­tet, dass es in Deutsch­land ein gutes Asyl­recht gäbe, man­che aber davon aus­ge­schlos­sen sind, weil es ihnen nicht zusteht. Tat­säch­lich ist es so, dass es in Deutsch­land eigent­lich kein Recht auf Asyl mehr gibt. Über zivi­len Unge­hor­sam kann zumin­dest die Dis­kus­si­on auch wie­der dahin gehend erwei­tert wer­den, zu sagen: Es gibt ein Recht auf Asyl, und das wird ver­letzt. Fol­gen wir nicht der Vor­ga­be von See­ho­fer, son­dern stel­len uns hin­ter das, was rechts­ethisch rech­tens ist.

Wie weit kann man über­haupt kom­men mit einem Kon­zept der soli­da­ri­schen Stadt, solan­ge Deutsch­land und Euro­pa auf eine strik­te Abschot­tungs­po­li­tik set­zen?

Es ist klar, dass das Kon­zept Gren­zen hat. Aber es ist wich­tig, dass es gegen die ras­sis­ti­schen Ver­net­zun­gen, gegen Horst See­ho­fer und Matteo Sal­vi­ni eine soli­da­ri­sche Städ­te­be­we­gung gibt. Bar­ce­lo­na oder Athen etwa suchen gezielt den Aus­tausch, um gute Lösun­gen zu fin­den. Ber­lin und ande­re Städ­te kön­nen ihre sozia­le Infra­struk­tur für alle Men­schen öff­nen. Aber man darf sich trotz­dem nicht der Illu­si­on hin­ge­ben, dass dann die Pro­ble­me aus der Welt sind. In Bay­ern ist nichts gelöst, nur weil Ber­lin etwas bes­ser macht. Es ist der Ver­such, Bei­spie­le zu schaf­fen, um einer behaup­te­ten Alter­na­tiv­lo­sig­keit etwas ent­ge­gen­zu­set­zen.

Was soll­te die Poli­tik beach­ten, wenn die den Weg zu einer soli­da­ri­schen Stadt ein­schlägt?

Not­wen­dig ist es, sich inten­siv und aus ers­ter Hand mit benach­tei­lig­ten Lebens­si­tua­tio­nen aus­ein­an­der­zu­set­zen, die aus unge­klär­ten Auf­ent­halts­fra­gen ent­ste­hen. Ohne das kann man gar nicht wis­sen, wo die Gefah­ren des All­tags lau­ern und wie man sich zu einer soli­da­ri­schen Stadt ent­wi­ckeln kann. Wenn der Senat nur einem Euro­pa-Netz­werk bei­tritt, ohne aber die­sen Aus­tausch zu suchen, funk­tio­niert es nicht.

Haben Sie die­se Erfah­run­gen?

Wir haben seit Beginn unse­rer Arbeit 2015 viel Input von Betrof­fe­nen gesam­melt und gefragt, wel­che Lebens­fel­der durch einen nicht lega­len Auf­ent­halts­sta­tus betrof­fen sind. In ers­ter Linie sind das Gesund­heit, Bil­dung, Woh­nen, Arbeit und Zugang zum Recht, also die Mög­lich­keit, einen Anwalt zu kon­tak­tie­ren oder, wenn man Opfer einer Straf­tat wird, zur Poli­zei zu gehen.

Tei­len Sie Ihre Erfah­run­gen, wenn die Poli­tik Inter­es­se hat?

Abso­lut. Bei unse­rem ers­ten prak­ti­schen Pro­jekt, der Arbeit für einen anony­men Kran­ken­schein, hat es bereits eine Zusam­men­ar­beit mit Poli­tik und Ver­wal­tung gege­ben. Uns geht es nicht um unse­re Deu­tungs­ho­heit oder um Kon­trol­le über das Wis­sen, son­dern dar­um, poli­ti­sche Pro­jek­te in Ber­lin zu ver­bes­sern. Am 27. August tref­fen wir uns mit der Lan­des­vor­sit­zen­den der Lin­ken, Kati­na Schu­bert.

Was sind die wich­tigs­ten Schrit­te, die Ber­lin jetzt im Sin­ne einer soli­da­ri­schen Stadt gehen soll­te?

Der Senat muss allen Schu­len und Bil­dungs­trä­gern klar­ma­chen, dass sie ver­pflich­tet sind, alle Kin­der auf­zu­neh­men. Dabei könn­te man auch her­aus­fin­den, war­um sich man­che Schu­len da quer­stel­len, etwa weil sie befürch­ten, dass die Kin­der nicht kran­ken­ver­si­chert sind. Die Will­kom­mens­klas­sen, in denen Kin­der jah­re­lang geparkt und von Men­schen ohne Lehr­amts­bil­dung unter­rich­tet wer­den, müs­sen abge­schafft wer­den. Super wäre es auch, auf kom­mu­na­ler Ebe­ne eine poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­ti­on zu ermög­li­chen.

Den anony­men Kran­ken­schein hat der Senat bereits beschlos­sen.

Seit die­sem Jahr soll­te es eine Kran­ken­ver­sor­gung für Men­schen ohne Papie­re geben. Dafür sind 1,5 Mil­lio­nen Euro bereit­ge­stellt, aber die ­Umset­zung steckt in der Ver­wal­tung fest. Anfangs lief es gut, da wur­den Grup­pen wie das Medi­büro ein­ge­bun­den. Zum jet­zi­gen Zeit­punkt ist aber völ­lig unklar, wie die Anony­mi­tät der Ille­ga­li­sier­ten gewahrt wer­den soll. Und auf ein­mal gibt es auch Ument­schei­dun­gen aus der Ver­wal­tung, die uns völ­lig unklar sind. Gera­de gibt es die Idee, eine haus­ärzt­li­che Erst­ver­sor­gung ein­zu­rich­ten, aber das ent­spricht nicht den rea­len Anfor­de­run­gen. Wenn Men­schen, die in der Ille­ga­li­tät leben, zum Arzt gehen, wol­len sie in der Regel mehr als eine Kopf­schmerz­ta­blet­te.

Wie soll­te es idea­ler­wei­se lau­fen?

In der Ide­al­vor­stel­lung wür­den die Leu­te ein­fach eine Kran­ken­kas­sen­kar­te krie­gen. Die Abrech­nung wür­de regu­lär über die Kran­ken­ver­si­che­rung lau­fen, statt eines Namens bekä­men die Pati­en­ten eine Num­mer. Das wird so nicht kom­men. Beschlos­sen ist ja die­ser Fonds und das Modell des Kran­ken­scheins. Unter die­ser Vor­ga­be wäre die prak­ti­ka­ble Lösung ein Büro, in dem sich Men­schen quar­tals­wei­se Kran­ken­schei­ne holen kön­nen, mit denen sie dann zum Arzt gehen kön­nen. Wie die Ärz­te ihre Abrech­nung bei den Kran­ken­kas­sen machen und damit an das Geld aus dem Fonds kom­men, ist aber nicht geklärt.

Mit andert­halb Mil­lio­nen Euro kön­nen aber nicht all zu vie­le Behand­lun­gen bezahlt wer­den.

Viel ist das nicht. Wir haben aber die Hoff­nung, dass, wenn sich so ein Sys­tem erst mal eta­bliert, es leich­ter die Mög­lich­keit gibt, das auf­zu­sto­cken.

Ber­lin hat­te sich im Juni bereit erklärt, Flücht­lin­ge von dem See­not­ret­tungs­schiff „Life­line“ auf­zu­neh­men, aber See­ho­fer hat sich dage­gen­ge­stellt. Gera­de durf­te die „Aqua­ri­us“ in Mal­ta anle­gen, wei­te­re Schif­fe wer­den fol­gen. Was erwar­ten Sie von Ber­lin?

Ich bin mir nicht ganz sicher, wel­che Mög­lich­kei­ten Ber­lin letzt­end­lich hat und ob sich der Senat wirk­lich mal hin­ge­setzt und das durch­de­kli­niert hat. Ein­fach nur zu sagen, wir wür­den sie neh­men, ist aber zu wenig. Was pas­siert denn, wenn man einen Bus mie­tet und die Men­schen abholt? Klar, Ber­lin kann nicht allein und von jetzt auf gleich die euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik ver­än­dern. Wenn man aber soli­da­risch sein will, dann lässt sich sicher­lich mehr machen.