Wir bau­en Druck auf

Jung­le World 32/2018

Das Bünd­nis Soli­da­ri­ty City wur­de in Ber­lin 2015 in Ber­lin gegrün­det. In den USA, Kana­da, Groß­bri­tan­ni­en, Ita­li­en und Spa­ni­en setzt sich das Netz­werk für die Rech­te von Geflüch­te­ten und Men­schen ohne Papie­re ein. Zen­tra­le The­men sind Wohn­raum, Gesund­heits­ver­sor­gung und der Zugang zum Arbeits­markt. Mit Jung­wirth sprach die »Jung­le World« über die Her­kunft des städ­ti­schen Unter­stüt­zungs­kon­zep­tes, die Unter­schie­de zu den USA und über die Ent­wick­lung der See­brü­cken-Kam­pa­gne.

Inter­view von Arved Clu­te-Simon

Was will das Bünd­nis Soli­da­ri­ty City und wer gehört ihm an?
Wir sind ein Netz­werk von lin­ken Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen. Dazu gehö­ren Leu­te mit und ohne Flucht- oder Migra­ti­ons­er­fah­rung. Wir wol­len die Mög­lich­keit der Teil­ha­be am städ­ti­schen Leben radi­kal zuguns­ten der Men­schen ver­än­dern. Kon­kret bedeu­tet das für uns zunächst vor allem, für die Rech­te von Ille­ga­li­sier­ten zu kämp­fen und der deut­schen und euro­päi­schen Migra­ti­ons­po­li­tik etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Wir wol­len den Gedan­ken einer soli­da­ri­schen Stadt wei­ter­ent­wi­ckeln: Wie kann in Ber­lin Teil­ha­be unab­hän­gig vom Auf­ent­halts­sta­tus funk­tio­nie­ren?

Das Bünd­nis »Soli­da­ri­ty City« ori­en­tiert sich an der nord­ame­ri­ka­ni­schen »Sanc­tua­ry City«-Bewegung. War­um habt ihr euch anders benannt und was unter­schei­det euch vom Vor­bild?
Welt­weit haben sich Städ­te zu »Sanc­tua­ry Cities« erklärt. Die­se Städ­te unter­zeich­nen eine Erklä­rung. Sie beinhal­tet, dass unab­hän­gig vom Auf­en­halts­sta­tus Zugang zum öffent­li­chen Leben gewährt wird. Die Idee einer »Solida­rity City« geht poli­tisch dar­über hin­aus. Es ist ein radi­ka­le­rer Ansatz, bei dem es um mehr geht als das Gewäh­ren von Zuflucht.

Dazu kommt, dass wir den christ­lich gepräg­ten Begriff sanc­tua­ry – Zuflucht – durch den ­Gedan­ken der Soli­da­ri­tät erset­zen wol­len. Wir ori­en­tie­ren uns in unse­rer Vor­stel­lung einer soli­da­ri­schen Stadt der­zeit vor allem an der Bewe­gung in Toron­to, mit der wir uns aus­tau­schen.

Die Bewe­gung der »Sanc­tua­ry ­Cities« selbst ent­stammt dem Kampf gegen die staat­li­che Migra­ti­ons­po­li­tik in den USA der acht­zi­ger Jah­re. Dort leb­ten und leben viel mehr Men­schen ille­ga­li­siert oder ohne gül­ti­gen Auf­ent­halts­sta­tus als in Deutsch­land. Wir ­ver­su­chen, ein Bewusst­sein dafür her­zu­stel­len, dass die im Ver­gleich klei­ne­re Anzahl hier­zu­lan­de zwar weni­ger wahr­ge­nom­men, aber eben­so sys­te­ma­tisch aus­ge­schlos­sen wird. Vie­les, was in Nord­ame­ri­ka gesetz­lich auf städ­ti­scher Ebe­ne gere­gelt wird, wird in Deutsch­land auf Bun­des­ebe­ne gere­gelt. Des­halb ist die städ­ti­sche Auto­no­mie hier in Deutsch­land rela­tiv gering. Stadt­staa­ten haben da mehr Mög­lich­kei­ten. Das zeigt die 2016 aufgeho­bene Ham­bur­ger Sena­to­ren­re­ge­lung, die afgha­ni­sche Geflüch­te­te vor der Abschie­bung schütz­te.

Heißt das, ihr macht Poli­tik­be­ra­tung für den Staat?
Wir bau­en Druck auf. »Soli­da­ri­ty City« heißt, dass es vor allem auf den Pro­zess ankommt und dass mit einer offi­zi­el­len Erklä­rung noch nicht viel erreicht ist. Es reicht auch nicht aus, dass in einer Stadt nicht mehr abge­scho­ben wird. Es muss dar­über hin­aus ein soli­da­ri­sches Leben und Zusam­men­le­ben für alle mög­lich sein.

Wie sieht eure kon­kre­te poli­ti­sche Arbeit aus?
Es gibt Spiel­räu­me, die wir erwei­tern wol­len – zum Bei­spiel im Bereich der Gesund­heits­ver­sor­gung. In Ber­lin gibt es seit Jah­ren Bemü­hun­gen, an denen wir auch betei­ligt sind, eine Stel­le zu schaf­fen, die anony­mi­sier­te Kran­ken­schei­ne für ille­ga­li­sier­te Men­schen aus­gibt.

Wir haben ein stra­te­gi­sches Ver­hält­nis zu den Behör­den. Wir arbei­ten ­zusam­men mit ihnen für kon­kre­te Ver­bes­se­run­gen, stel­len aber For­de­run­gen, die dar­über hin­aus­ge­hen. Den anony­mi­ser­ten Kran­ken­schein sehen wir bei­spiels­wei­se nur als ers­ten Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung. Außer­dem wol­len wir kom­mu­na­le Struk­tu­ren auf­bau­en. Einen hohen Stel­len­wert hat es für uns, den Betrof­fe­nen Infor­ma­tio­nen über bestehen­de Rech­te und Mög­lich­kei­ten zu ver­mit­teln, damit die­se über­haupt zur Gel­tung kom­men kön­nen. Gera­de in Ber­lin gibt es schon vie­le Initia­ti­ven, die etwas Ähn­li­ches ver­su­chen. Ohne ein gro­ßes Netz­werk wür­de das, was wir wol­len, nicht funk­tionieren.

Nach der Schlie­ßung der ita­lie­ni­schen Häfen haben sich die Mit­tel­meer-Flucht­rou­ten nach Spa­ni­en ver­scho­ben. Bar­ce­lo­na nimmt mitt­ler­wei­le Geflüch­te­te aus dem Mit­tel­meer auf und bezeich­net sich als Soli­da­ri­ty City. Ein Fort­schritt?
Man soll­te abwar­ten, was die nächs­ten Ent­wick­lun­gen sind. In ganz Euro­pa wird die Abschot­tungs­po­li­tik wei­ter aus­ge­baut, vor eini­gen Tagen gab es erst­mals wie­der einen ille­ga­len Push-back der ita­lie­ni­schen Küs­ten­wa­che zurück nach Liby­en. Das pas­siert ja alles gleich­zei­tig. Was in Spa­ni­en geschieht, ist eher eine Reak­ti­on dar­auf, dass die meis­ten EU-Staa­ten das ­Ster­ben im Mit­tel­meer inzwi­schen bil­li­gend in Kauf neh­men. See­not­ret­tung oder die Doku­men­ta­ti­on von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen im Mit­tel­meer wer­den sys­te­ma­tisch kri­mi­na­li­siert. Wenn sich ein­zel­ne Städ­te zur Mensch­lich­keit beken­nen, ist das ein gutes ­Zei­chen, aber es zeigt nicht, dass sich an der Poli­tik etwas Grund­sätz­li­ches ändert.

In Deutsch­land haben Köln, Düs­sel­dorf und Bonn sich vor kur­zem mit ­einem offe­nen Brief an Kanz­le­rin Mer­kel gewandt und ihre Bereit­wil­lig­keit signa­li­siert, Geflüch­te­te aus dem Mit­tel­meer auf­zu­neh­men. Auch aus Ber­lin gibt es sol­che Signa­le. Das zeigt, dass die Poli­tik in Deutsch­land nicht nur Horst See­ho­fer ist. Aber ob die­se ande­ren Posi­tio­nen mehr als Lip­pen­be­kennt­nis­se sind, muss über­prüft wer­den. Zumal die Art und Wei­se, wie mit Geflüch­te­ten in deut­schen Städ­ten umge­gan­gen wird, nach wie vor ver­bes­se­rungs­wür­dig ist.

In Köln, Bonn und Düs­sel­dorf sind es Bür­ger­meis­ter, die Geflüch­te­te auf­neh­men wol­len. Wie steht die­ser – von oben kom­men­de – Ansatz im Ver­hält­nis zu eurem Kon­zept ­einer soli­da­ri­schen Stadt?
Für unse­re Poli­tik hat das bis jetzt eigent­lich kei­ne Aus­wir­kun­gen. Einer­seits ist selbst­ver­ständ­lich begrü­ßens­wert, wenn Men­schen aus der Poli­tik Far­be beken­nen und Geflüch­te­te auf­neh­men wol­len. Aber es geht die­sen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern nicht dar­um, Ille­ga­li­sie­rung zu bekämp­fen oder Abschie­bun­gen zu ver­hin­dern.

Wie sieht eure Zusam­men­ar­beit mit ande­ren Initia­ti­ven und Pro­jek­ten in Euro­pa aus?
In den letz­ten Jah­ren hat sich erst ein­mal auf deut­scher Ebe­ne ein Netz­werk von »Soli­da­ri­ty City«-Initiativen gegrün­det, dem inzwi­schen mehr als 15 Städ­te ange­hö­ren. Das war ein ers­ter gro­ßer Schritt und eine Men­ge Arbeit. Aber wir sind auch in Kon­takt mit Initia­ti­ven und Stadt­ver­wal­tun­gen in ande­ren ­euro­päi­schen Städ­ten, zum Bei­spiel aus Bar­ce­lo­na und Paler­mo. Wir ­kon­zen­trie­ren uns aber gene­rell auf Ber­lin und die Arbeit in der Stadt.
Zudem hat sich in den letz­ten Wochen mit der See­brü­cken-Bewe­gung für uns ein neu­es poli­ti­sches Feld auf­ge­tan, es ist ein euro­pa­wei­ter Akti­ons­tag geplant. Es geht dar­um, der Rhe­to­rik von Abschot­tung und Aus­gren­zung, die zur­zeit die Debat­te in ganz Euro­pa domi­niert, etwas ent­ge­gen­zu­set­zen.

Was könnt ihr zur Ent­wick­lung und den Mög­lich­kei­ten der See­brü­cken-Kam­pa­gne sagen?
So wie es sich in den letz­ten Wochen ent­wi­ckelt hat, gibt es ein unglaub­li­ches Poten­ti­al. Und ich sehe das auch nicht abrei­ßen. Das hat vor einem ­Monat als eine Idee von ein paar Leu­ten begon­nen, jetzt gibt es jedes Wochen­en­de in einem Dut­zend Städ­ten Aktio­nen. Es ist eine brei­te Bewe­gung gewor­den. Bei der Demons­tration in Ber­lin am 7. Juli waren vie­le Tau­send ­Men­schen auf der Stra­ße, total bunt zusammen­gesetzt: Grup­pen, Initia­ti­ven, Ein­zel­per­so­nen aus den unter­schied­lichs­ten Ecken der Lin­ken – von der radi­ka­len Lin­ken über NGOs bis hin zu den Leu­ten aus der Will­kom­mens­kul­tur. Es gibt eine Men­ge Men­schen, die es gut fin­den, eine Gegen­po­si­ti­on zur Abschot­tung und zum Ertrin­ken­las­sen arti­ku­lie­ren zu kön­nen. Die EU-Poli­tik über­schrei­tet für mehr und mehr Leu­te eine rote Linie. Nur medi­al auf­ge­nom­men wird die­ser Aspekt bis­her noch nicht. Und wir wer­den immer mehr.