Gesund­heit für Alle for­dern: Zwei­ter Akt

Foto: flickr, Mike Herbst

Als wir end­lich unse­re ers­ten For­de­run­gen kon­zi­piert hat­ten, stan­den die Wah­len 2016 in Ber­lin kurz bevor. Im Vor­feld der Wahl schrie­ben wir Par­tei­en an und frag­ten, was ihre Plä­ne im Bereich Gesund­heits­ver­sor­gung von allen Men­schen in Ber­lin sind. Die Ant­wort der Par­tei­en, die jetzt in der Ber­li­ner Regie­rung sit­zen, war all­ge­mein posi­tiv, aller­dings immer auch etwas vage und ver­spre­chend, noch kon­kre­ter zu wer­den.

Nach ihrer Wahl erklär­te die Rot-Rot-Grü­ne Koali­ti­on tat­säch­lich ihre Absicht, eine Art anony­me Gesund­heits­ver­sor­gung mit in ihr Koali­ti­ons­pro­gramm auf­zu­neh­men. Es wur­den aber kei­ne kon­kre­ten Lösun­gen ver­ein­bart, wes­halb der Senat für Gesund­heit und Sozia­les einen run­den Tisch mit Grup­pen aus der Zivil­ge­sell­schaft ins Leben rief, um mehr Infor­ma­tio­nen zu sam­meln und mög­li­che Stra­te­gi­en für eine der­ar­ti­ge anony­me Ver­sor­gung zu ent­wi­ckeln.

Wir tra­ten einem unter­ge­ord­ne­ten run­den Tisch bei, des­sen Ziel es war, Input von tat­säch­lich betrof­fe­nen Men­schen zu geben. Zuerst dreh­ten sich die Gesprä­che dar­um, was wir nicht tun kön­nen. Man­che von uns waren von der Kom­ple­xi­tät der The­ma­tik über­for­dert und gelähmt. Wir reflek­tier­ten meh­re­re Tage über all die­se Din­ge, die wir nicht tun kön­nen, anschlie­ßend tra­ten wir ein wenig zurück und dach­ten über die Situa­ti­on nach:
Wie konn­te es sein, dass Poli­tik von so vagen Begren­zun­gen und abs­trak­ten Hin­der­nis­sen defi­niert wird. Für uns war es nicht rich­tig, dass wir uns zurück­zie­hen, bevor die Aus­ein­an­der­set­zung über­haupt erst begann.

Wir ent­schlos­sen uns, die­ses tech­no­kra­ti­schen Hin­der­nis­se zu umge­hen. Wir kon­tak­tier­ten alle, die an bei­den run­den Tischen saßen, wie auch Orga­ni­sa­tio­nen, die poten­ti­ell unse­re For­de­run­gen unter­stüt­zen wür­den. Wir kri­ti­sier­ten die­se bereits eta­blier­ten Hin­der­nis­se und Begren­zun­gen und schlu­gen alter­na­ti­ve Lösun­gen vor, wäh­rend wir gleich­zei­tig auch die Ergeb­nis­se unse­rer Recher­chen denen zugäng­lich mach­ten, die auf anony­me Gesund­heits­ver­sor­gung ange­wie­sen sind.

Und auch wenn uns klar war, dass wir so bestimmt nicht alle unse­re Zie­le errei­chen wür­den, waren wir zumin­dest in der Lage, die Ver­hand­lun­gen zu beein­flus­sen und bestimm­te Pro­ble­me anzu­spre­chen, die eine schlecht geplan­te anony­me Gesund­heits­ver­sor­gung mit sich brin­gen könn­te.

Nach unse­rer Sor­ge, uns in ein sol­ches tech­no­kra­ti­sches Feld zu bege­ben, stell­ten wir fest, dass auch ein Bünd­nis, wie wir es sind, tat­säch­lich eige­ne Poli­cy-Vor­schlä­ge ent­wi­ckeln und ein­brin­gen kann.

Das waren die Ergeb­nis­se:

  • Das Kon­zept soll­te eine anony­me Gesund­heits­kar­te – oder alter­na­tiv – einen Kran­ken­schein für ein Quar­tal anbie­ten. Ein Kran­ken­schein erlaubt poten­ti­el­len Patient_innen mit Gesund­heits­dienst­leis­tern in Kon­takt zu tre­ten und wird nor­ma­ler­wei­se von Fall zu Fall aus­ge­stellt. Kran­ken­schei­ne, die von Fall zu Fall bzw. immer abhän­gig von Krank­heit aus­ge­ge­ben wer­den, ver­zö­gern medi­zi­ni­sche Behand­lun­gen und stel­len eine unnö­ti­ge Hür­de dar.
  • Für eine der­ar­ti­ge Lösung ist die unbe­grenz­te finan­zi­el­le Abde­ckung des Pro­jek­tes ent­schei­dend. Der­zeit gibt es kei­ne ver­läss­li­chen Zah­len oder Schät­zun­gen, wie vie­le Men­schen eine anony­me Gesund­heits­ver­sor­gung in Ber­lin benö­ti­gen. Daher kann auch nicht geschätzt wer­den, wie viel Geld ein der­ar­ti­ges Pro­jekt benö­ti­gen wür­de. Zusätz­lich wür­de gera­de eine Lösung mit einem limi­tier­ten Fonds, wie sie dis­ku­tiert und vor­ge­schla­gen wur­de, vor allem die Ver­ga­be­stel­le bzw. die dafür zustän­di­ge Orga­ni­sa­ti­on stark unter Druck set­zen. Die mög­li­che Ableh­nung einer Gesund­heits­kar­te oder eines Kran­ken­scheins ohne sorg­fäl­ti­ge medi­zi­ni­sche Unter­su­chung hat­te sich in der Ver­gan­gen­heit als extrem pro­ble­ma­tisch her­aus­ge­stellt.
    Der Flücht­lings­rat Ber­lin, die Kam­pa­gne “Gesund­heit für Geflüch­te­te” und das Netz­werk EQUAL der Uni­ver­si­tät Osna­brück haben über Jah­re die Pro­ble­me doku­men­tiert, die mit einem sol­chen Fall-basier­ten Kran­ken­schein und finan­zi­ell-limi­tier­ter Aus­ga­be ein­her­ge­hen kön­nen.
  • Men­schen müs­sen in Deutsch­land nach der Regel­ver­sor­gung ver­si­chert sein – auch ohne Ein­schrän­kung durch §4 und §6 des Asyl­bLG. Aus­schluss von chro­ni­schen und psy­cho­lo­gi­schen Krank­hei­ten basiert hier­bei nicht auf irgend­ei­ner medi­zi­ni­schen Argu­men­ta­ti­on. Der Ver­such, Men­schen aus dem Land zu ver­trei­ben, indem ihnen grund­le­gen­de medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ver­wehrt wird, ist eine schwer­wie­gen­de Unge­rech­tig­keit und steht im star­ken Kon­trast zum grund­le­gen­den Men­schen­recht auf Zugang zu Gesund­heits­ver­sor­gung.
  • Es muss ein offe­nes Sys­tem geben, das Zugang erlaubt, da Men­schen, die ille­ga­li­siert in Deutsch­land leben, oft­mals die not­wen­di­gen Papie­re nicht vor­zei­gen kön­nen. Zusätz­lich soll­te das Pro­gramm nicht nur auf ille­ga­li­sier­te Men­schen abzie­len, son­dern auch Geflüch­te­te aus euro­päi­schen Staa­ten berück­sich­ti­gen (bei­spiels­wei­se Sin­ti und Roma), die eben­falls regel­mä­ßig vom Zugang zu Gesund­heits­ver­sor­gung aus­ge­schlos­sen sind. Eben­falls betrof­fen sind deut­sche Staatsbürger_innen, die aus dem Sys­tem her­aus­ge­fal­len sind. Und auch Geflüch­te­te, deren Ver­si­che­rung nach §4 und §6 des Asyl­bLG nur ein­ge­schränkt Krank­heits­fäl­le abdeckt, müs­sen die­sen anony­men Zugang nut­zen kön­nen, um im Krank­heits­fall ver­si­chert zu sein.
  • Die Ver­tei­lung der Kar­te oder des Kran­ken­scheins muss von einer nicht-staat­li­chen Insti­tu­ti­on über­nom­men wer­den, die bereits Ver­bin­dung in die Com­mu­nities hin­ein hat, die auf die­ses Sys­tem ange­wie­sen sind. Die Men­schen, die die­ses Sys­tem benut­zen wer­den, müs­sen in den Imple­men­tie­rungs­pro­zess ein­ge­bun­den sein. Und damit ein funk­tio­nie­ren­des Sys­tem ent­wi­ckelt wer­den kann, das auch die Erfah­run­gen von Betrof­fe­nen mit ein­be­zieht, muss auch ein Bei­rat imple­men­tiert wer­den.
  • Über­set­zun­gen sind ele­men­tar und unver­zicht­bar für erfolg­rei­che medi­zi­ni­sche Behand­lun­gen und müs­sen in der Finan­zie­rung des Pro­jek­tes vor­ge­se­hen wer­den.
  • Es muss finan­zi­el­le Res­sour­cen für ras­sis­mus­kri­ti­sche Trai­nings von medi­zi­ni­schem Per­so­nal geben. Aus unse­ren Befra­gun­gen haben wir gehört, dass in bestimm­ten Situa­tio­nen struk­tu­rel­ler Ras­sis­mus, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­me und abwei­chen­de Erfah­run­gen mit medi­zi­ni­schen Struk­tu­ren zu Kon­flik­ten geführt haben, wel­che wie­der­um Men­schen davon abhal­ten, die not­wen­di­ge und ange­mes­se­ne medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung zu erhal­ten. Dar­auf auf­merk­sam zu machen, wäre ein ein­fa­cher Weg die­se Pro­ble­me anzu­ge­hen. In die­sem Kon­text, muss auch gesagt wer­den, dass Geflüch­te­te auch unter ganz bestimm­ten gesund­heit­li­chen Pro­ble­men lei­den kön­nen, die den Rest der Gesell­schaft nicht so häu­fig betref­fen, etwa Post­trau­ma­ti­sche-Belas­tungs­stö­run­gen.
  • Das Pro­jekt muss auch eine Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gne beinhal­ten, die sich an Betrof­fe­ne wen­det. In ande­ren Städ­ten hat sich gezeigt, dass sich die­ses Wis­sen nur schwer wei­ter­ver­brei­tet. Ins­be­son­de­re, für wel­che Men­schen ein sol­cher anony­mer Zugang infra­ge kommt.

Ist der aktu­el­le Plan, der jetzt bis Jah­res­en­de in Aus­schüs­sen bespro­chen wird, alles was wir brau­chen?
Nein. Aber es ist ein guter Start. Haben wir damit unse­re Zie­le erreicht und kön­nen uns aus­ru­hen? Sicher nicht.
Aber auf­grund des Drucks, den Soli­da­ri­ty City Ber­lins und ande­re Orga­ni­sa­tio­nen auf­ge­baut haben, ist es gelun­gen, die Ber­li­ner Regie­rung zu zwin­gen, die­se Leer­stel­len als wich­ti­ges The­ma zu begrei­fen.

Wenn wir nicht da gewe­sen wären, nicht nur um Druck auf­zu­bau­en, son­dern auch um unse­re eige­nen Vor­stel­lun­gen ein­zu­brin­gen, wo wären Lösun­gen gefun­den wor­den?

Jetzt beginnt die kri­tischs­te Pha­se. Mit Sep­tem­ber wer­den in Ber­lin die Bud­get­ver­hand­lun­gen begon­nen. Und selbst die bes­ten Vor­schlä­ge und auch Pro­jek­te mit der größ­ten Grup­pe an Unterstützer_innen kön­nen kei­ne Rea­li­tät wer­den, wenn es kei­ne ordent­li­che Finan­zie­rung für sie gibt. Wenn wir jetzt nicht wei­ter machen, Druck auf­zu­bau­en und Men­schen zu mobi­li­sie­ren, wie kön­nen wir dann garan­tie­ren, dass die­ses bereits abge­schwäch­te Pro­jekt, der geplan­te anony­me Kran­ken­schein, nicht auch noch vom Tisch fal­len wird.

Daher dür­fen wir jetzt nicht nach­las­sen, son­dern müs­sen die Gren­zen des Mach­ba­ren ver­schie­ben und wei­ter nach mehr ver­lan­gen.