Als wir endlich unsere ersten Forderungen konzipiert hatten, standen die Wahlen 2016 in Berlin kurz bevor. Im Vorfeld der Wahl schrieben wir Parteien an und fragten, was ihre Pläne im Bereich Gesundheitsversorgung von allen Menschen in Berlin sind. Die Antwort der Parteien, die jetzt in der Berliner Regierung sitzen, war allgemein positiv, allerdings immer auch etwas vage und versprechend, noch konkreter zu werden.
Nach ihrer Wahl erklärte die Rot-Rot-Grüne Koalition tatsächlich ihre Absicht, eine Art anonyme Gesundheitsversorgung mit in ihr Koalitionsprogramm aufzunehmen. Es wurden aber keine konkreten Lösungen vereinbart, weshalb der Senat für Gesundheit und Soziales einen runden Tisch mit Gruppen aus der Zivilgesellschaft ins Leben rief, um mehr Informationen zu sammeln und mögliche Strategien für eine derartige anonyme Versorgung zu entwickeln.
Wir traten einem untergeordneten runden Tisch bei, dessen Ziel es war, Input von tatsächlich betroffenen Menschen zu geben. Zuerst drehten sich die Gespräche darum, was wir nicht tun können. Manche von uns waren von der Komplexität der Thematik überfordert und gelähmt. Wir reflektierten mehrere Tage über all diese Dinge, die wir nicht tun können, anschließend traten wir ein wenig zurück und dachten über die Situation nach:
Wie konnte es sein, dass Politik von so vagen Begrenzungen und abstrakten Hindernissen definiert wird. Für uns war es nicht richtig, dass wir uns zurückziehen, bevor die Auseinandersetzung überhaupt erst begann.
Wir entschlossen uns, dieses technokratischen Hindernisse zu umgehen. Wir kontaktierten alle, die an beiden runden Tischen saßen, wie auch Organisationen, die potentiell unsere Forderungen unterstützen würden. Wir kritisierten diese bereits etablierten Hindernisse und Begrenzungen und schlugen alternative Lösungen vor, während wir gleichzeitig auch die Ergebnisse unserer Recherchen denen zugänglich machten, die auf anonyme Gesundheitsversorgung angewiesen sind.
Und auch wenn uns klar war, dass wir so bestimmt nicht alle unsere Ziele erreichen würden, waren wir zumindest in der Lage, die Verhandlungen zu beeinflussen und bestimmte Probleme anzusprechen, die eine schlecht geplante anonyme Gesundheitsversorgung mit sich bringen könnte.
Nach unserer Sorge, uns in ein solches technokratisches Feld zu begeben, stellten wir fest, dass auch ein Bündnis, wie wir es sind, tatsächlich eigene Policy-Vorschläge entwickeln und einbringen kann.
Das waren die Ergebnisse:
- Das Konzept sollte eine anonyme Gesundheitskarte – oder alternativ – einen Krankenschein für ein Quartal anbieten. Ein Krankenschein erlaubt potentiellen Patient_innen mit Gesundheitsdienstleistern in Kontakt zu treten und wird normalerweise von Fall zu Fall ausgestellt. Krankenscheine, die von Fall zu Fall bzw. immer abhängig von Krankheit ausgegeben werden, verzögern medizinische Behandlungen und stellen eine unnötige Hürde dar.
- Für eine derartige Lösung ist die unbegrenzte finanzielle Abdeckung des Projektes entscheidend. Derzeit gibt es keine verlässlichen Zahlen oder Schätzungen, wie viele Menschen eine anonyme Gesundheitsversorgung in Berlin benötigen. Daher kann auch nicht geschätzt werden, wie viel Geld ein derartiges Projekt benötigen würde. Zusätzlich würde gerade eine Lösung mit einem limitierten Fonds, wie sie diskutiert und vorgeschlagen wurde, vor allem die Vergabestelle bzw. die dafür zuständige Organisation stark unter Druck setzen. Die mögliche Ablehnung einer Gesundheitskarte oder eines Krankenscheins ohne sorgfältige medizinische Untersuchung hatte sich in der Vergangenheit als extrem problematisch herausgestellt.
Der Flüchtlingsrat Berlin, die Kampagne “Gesundheit für Geflüchtete” und das Netzwerk EQUAL der Universität Osnabrück haben über Jahre die Probleme dokumentiert, die mit einem solchen Fall-basierten Krankenschein und finanziell-limitierter Ausgabe einhergehen können. - Menschen müssen in Deutschland nach der Regelversorgung versichert sein – auch ohne Einschränkung durch §4 und §6 des AsylbLG. Ausschluss von chronischen und psychologischen Krankheiten basiert hierbei nicht auf irgendeiner medizinischen Argumentation. Der Versuch, Menschen aus dem Land zu vertreiben, indem ihnen grundlegende medizinische Versorgung verwehrt wird, ist eine schwerwiegende Ungerechtigkeit und steht im starken Kontrast zum grundlegenden Menschenrecht auf Zugang zu Gesundheitsversorgung.
- Es muss ein offenes System geben, das Zugang erlaubt, da Menschen, die illegalisiert in Deutschland leben, oftmals die notwendigen Papiere nicht vorzeigen können. Zusätzlich sollte das Programm nicht nur auf illegalisierte Menschen abzielen, sondern auch Geflüchtete aus europäischen Staaten berücksichtigen (beispielsweise Sinti und Roma), die ebenfalls regelmäßig vom Zugang zu Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind. Ebenfalls betroffen sind deutsche Staatsbürger_innen, die aus dem System herausgefallen sind. Und auch Geflüchtete, deren Versicherung nach §4 und §6 des AsylbLG nur eingeschränkt Krankheitsfälle abdeckt, müssen diesen anonymen Zugang nutzen können, um im Krankheitsfall versichert zu sein.
- Die Verteilung der Karte oder des Krankenscheins muss von einer nicht-staatlichen Institution übernommen werden, die bereits Verbindung in die Communities hinein hat, die auf dieses System angewiesen sind. Die Menschen, die dieses System benutzen werden, müssen in den Implementierungsprozess eingebunden sein. Und damit ein funktionierendes System entwickelt werden kann, das auch die Erfahrungen von Betroffenen mit einbezieht, muss auch ein Beirat implementiert werden.
- Übersetzungen sind elementar und unverzichtbar für erfolgreiche medizinische Behandlungen und müssen in der Finanzierung des Projektes vorgesehen werden.
- Es muss finanzielle Ressourcen für rassismuskritische Trainings von medizinischem Personal geben. Aus unseren Befragungen haben wir gehört, dass in bestimmten Situationen struktureller Rassismus, Kommunikationsprobleme und abweichende Erfahrungen mit medizinischen Strukturen zu Konflikten geführt haben, welche wiederum Menschen davon abhalten, die notwendige und angemessene medizinische Versorgung zu erhalten. Darauf aufmerksam zu machen, wäre ein einfacher Weg diese Probleme anzugehen. In diesem Kontext, muss auch gesagt werden, dass Geflüchtete auch unter ganz bestimmten gesundheitlichen Problemen leiden können, die den Rest der Gesellschaft nicht so häufig betreffen, etwa Posttraumatische-Belastungsstörungen.
- Das Projekt muss auch eine Informationskampagne beinhalten, die sich an Betroffene wendet. In anderen Städten hat sich gezeigt, dass sich dieses Wissen nur schwer weiterverbreitet. Insbesondere, für welche Menschen ein solcher anonymer Zugang infrage kommt.
Ist der aktuelle Plan, der jetzt bis Jahresende in Ausschüssen besprochen wird, alles was wir brauchen?
Nein. Aber es ist ein guter Start. Haben wir damit unsere Ziele erreicht und können uns ausruhen? Sicher nicht.
Aber aufgrund des Drucks, den Solidarity City Berlins und andere Organisationen aufgebaut haben, ist es gelungen, die Berliner Regierung zu zwingen, diese Leerstellen als wichtiges Thema zu begreifen.
Wenn wir nicht da gewesen wären, nicht nur um Druck aufzubauen, sondern auch um unsere eigenen Vorstellungen einzubringen, wo wären Lösungen gefunden worden?
Jetzt beginnt die kritischste Phase. Mit September werden in Berlin die Budgetverhandlungen begonnen. Und selbst die besten Vorschläge und auch Projekte mit der größten Gruppe an Unterstützer_innen können keine Realität werden, wenn es keine ordentliche Finanzierung für sie gibt. Wenn wir jetzt nicht weiter machen, Druck aufzubauen und Menschen zu mobilisieren, wie können wir dann garantieren, dass dieses bereits abgeschwächte Projekt, der geplante anonyme Krankenschein, nicht auch noch vom Tisch fallen wird.
Daher dürfen wir jetzt nicht nachlassen, sondern müssen die Grenzen des Machbaren verschieben und weiter nach mehr verlangen.